Infermental 9
[2007]
Alle Arbeiten, die wir auf der 5-teiligen Edition »Herz von Europa«, Wien 1989 publiziert haben, sind interessante Meilensteine im Medienschaffen der 1980-er Jahre und haben ihre Aktualität im Bereich der Medienkunst noch immer nicht verloren.
Unsere persönlichen Lieblingsvideos der Edition sind die Dokumentation des skurrilen wie rasanten Happenings »Ein Narrenfeiertag« von Ilja Frez, gefolgt von der zynischen Betrachtung eines kommenden russischen Frühlingserwachens, »Becha« von A. Mertvij und E. Jufit, das naiv-obskure Video »Fany+Tute« von Ute Meta Bauer und Susanne Müller, das uns zum Lachen bringt, und last-not-least »Der Herzschlag des Anubis« von Bettina Gruber und Maria Vedder, das uns charmant und phantasievoll in eine mögliche Welt ägyptischer Götter versetzt.
Wenn wir aber im Katalog und in unseren Erinnerungen weiter blättern, finden wir, dass unsere persönliche kleine Auswahl zu einschränkend, die Reihung ungerecht und die Aufzählung unserer Favoriten noch lange nicht zu Ende sein dürfte, denn eigentlich ist jedes Video ein ganz besonderes Lieblingstück von uns und so können wir allen Interessierten nur die ganze Edition »ans Herz« legen.[1]
In Anbetracht dieses unlösbaren, emotionalen Dilemmas haben wir uns daher für eine Auswahl nach ganz anderen Kriterien entschieden. Nicht das, was wir lieben, zeigen wir, sondern die Arbeiten, die unserer Einschätzung nach am repräsentativsten in die aktuelle Mediengegenwart verweisen.
JEDES VIDEO EIN MUSIKVIDEO
Eine Auswahl dieser Art klingt im ersten Moment hitverdächtig, ist sie aber naturgemäß nicht, denn obwohl sich in den letzten Jahren auf dem Kunstsektor und in der Jugendkultur eine übermäßig starke Nachfrage nach Musik und einer »dazugehörigen« Visualisierung herauskristallisierte, hat dieses vermehrte öffentliche Begehren erst einmal mit Kunst fast nichts, weder musikalisch noch visuell, gemein.
Kommerziell hat uns dieses gewachsene Interesse mehrere Musiksender mit permanent laufenden, meist ähnlichen Musikvideoprogrammen, eine lebhafte Clubkultur – inklusive einem neuen Berufsbild, dem des Djs – und darüber hinaus, als fixen [Live]Bestandteil, eine neue Kategorie bei den Videofestivals beschert. Aber das ist dann auch schon alles und alles ist darüber hinaus noch ein wenig komplizierter, als es scheint.
Wir unterscheiden in unserer Auswahl daher zwei Arten des künstlerischen Musikvideos. Die erste visualisiert eine bestimmte, zeitgenössisch aktuelle Musik und erfüllt damit ihren definierten Zweck, während die zweite den »nichtarbeitsteiligen« Musik- und Visualisierungprozess von Arbeitsgruppen repräsentiert.
Diese speziellen Auswahlkriterien trafen auf Videos zu, die bereits in der Planung und beim Produktionsprozess als Musikvideos definiert wurden [Muki Pakesch, Draut, Langoth, Stadlmann, Blume], die als Musikvideo enttarnt werden konnten [Breindl/Sodomka/Mathes, Schatzl, Barna, Henricks, Egli] und auf Videos, die Relikte aus medienüberrgreifenden, audio-visuellen Aufführungen/Installationen sind [Kowanz, GRAF+ZYX].
Für beide Arten der Produktion gilt oberflächlich betrachtet derselbe qualitative Anspruch. Eine – oder noch besser keine – Geschichte konform mit den künstlerischen Tendenzen der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts[2] zu erzählen und diese Anforderungen mit allen zur Verfügung stehenden visuellen Mitteln mit besonderem Bezug auf die Musik zu realisieren, rhythmisch oder gegen den Rhythmus der Musik.
Das experimentelle audio-visuelle Kunstprodukt muss über diese Voraussetzungen hinaus aber zusätzlich seine Distanz zu den kommerziellen Musikproduktionen seiner Zeit beweisen. Daher gilt für seine Einschätzung: Nicht das, was uns aus den Massenmedien bekannt und daher als Klangbild vertraut ist, sondern das, was sich als »Sprengung« der Hör- und Sehgewohnheiten unter Wahrung eines qualitativ hohen Produktionslevels beider künstlerischen Disziplinen herauskristallisiert, ist möglicherweise die Kunst. Die Urheber von medienübergreifenden audio-visuellen Arbeiten können nicht hinter ihr Produkt zurücktreten und die Teilverantwortung »Musik« an Dritte übergeben, sondern müssen sich mit ihrer gesamten Idee, ihrem ganzen Können und Stilwollen, ihrer ganzen Person und am Ende noch mit ihrer Stimme der Kritik eines möglichen Betrachters stellen.
Dass sich in dieser Auswahl besonders viele Österreichbeiträge finden, ist nicht weiter verwunderlich. Die österreichischen Medienkünstler zeigten schon Anfang der 80-er Jahre eine starke Affinität zur Musik und visualisierten und performten fast ausschließlich selbst ihre eigenen, teilweise experimentellen Musikproduktionen [Breindl/Sodomka, Stadlmann, Langoth, Kowanz, GRAF+ZYX].
Diese Arbeitsbeispiele sind aber auch aus kunsthistorischer Sicht interessant, da sie in exemplarischer Weise den Beginn der Entwicklung eines experimentellen, damals typisch österreichischen Kunstvideos aufzeigen und darüber hinaus auch die Anfänge und Experimente innerhalb einer zeitgenössischen, elektronischen Musik abseits eines kommerziellen Mainstreams dokumentieren. Zur Beurteilung der Arbeiten muß daher das Wissen über zeitgenössische Musik genauso herangezogen werden wie die Erkenntnisse über Ästhetik der Medienkunst bzw. der Massenmedien und darüber hinaus das Wissen über eine technische Realisierbarkeit von Bild und Musik innerhalb einer bestimmten Epoche.
Und hier liegen die Schwierigkeiten bei der Vermittlung wie beim Konsum dieser komplexen Arbeiten – damals wie heute.
© GRAF+ZYX
Rückblick
MUSIK UND IHR BESONDERES VERHÄLTNIS ZUM BILD
Video als komplex und bewußt formal-ästhetisch gestaltendes – über die reine Zerstörung oder selbstreferenzierende in Frage Stellung des Mediums hinausgehendes – künstlerisches Ausdrucksmittel findet zu Beginn der 1980-er Jahre zusehends stärkere Bedeutung besonders unter Österreichs jüngeren Medienkünstlern. Dieser theoretische Ansatz eines »artificial movement versus socially generated patterns« trennt Film- und Videokünstler künftig in zwei Lager. Videoarbeiten mit sozialkritisch-politischem Inhalt, arbeitsteilig produziert, bleiben den gewohnten Darstellungs- und Präsentationsformen der Massenmedien verhaftet, während die Anhänger eines »artificial movements« sich bedingungslos in Inhalt und Form dem künstlerischen Experiment, einer neuen technischen Erzählform im Sinn eines »persönlich individuellen Gesamtkunstwerks« verpflichten.
War es zuerst nur die Verknüpfung von bewegtem, oft abstraktem Bild und eigener Musik, das die österreichischen Künstler dieser Generation reizte, kam es bald zum Wunsch, »über den Bildschirmrand und die Grenzen der Medien« hinaus in den Raum zu treten, und so bestimmten Live-Auftritte, Medienperformances[3], Mixed-Media-Installationen und plastisches Gestalten in Form von Videoskulpturen in der Folge (ab Mitte der 1980-er Jahre) das Erscheinungsbild zeitgenössischer österreichischer Medienkunst[4].
BILD UND MUSIK IM ÖSTERREICHISCHEN KUNSTVIDEO
Selbstkomponierte und selbst performte Musik war die Basis dieser neuen österreichischen »Audio-Visualisten«. Unter anderem produzierte und veröffentlichte sogar die Hochschule für Angewandte Kunst 1984 exemplarisch zu den musikalischen Bestrebungen der Studierenden der Klasse Grafik [Leitung Rektor Prof. Oswald Oberhuber] die Langspielplatte FÜNFZEHN TONSPUREN : 00:36:54 – 15 Tonspuren für 15 nicht bildmaterialisierte S-8 Filme + Videos. Urheber der Idee war der damalige Assist von Professor Oberhuber, Karl Kowanz. Selbst Musiker und Medienkünstler, leitete er das Projekt und war für Zusammenstellung und grafische Gestaltung verantwortlich.
Die Videotechnikausstattung dieser Klasse bestand bis 1985 nur aus zwei Low-Band-U-Matic-Maschinen, einem Schnittcomputer, zwei Monitoren, einer Einröhrenkamera mit Stativ und einigen privaten S-8 Kameras.
Noch bevor es überhaupt eine Klasse für Mediengestaltung gab wurde, trotzt unzureichender technischer Ausstattung, von den Künstlern bereits medienübergreifend, audio-visuell gedacht und produziert.
DIE NEUEN MEDIEN IM SPIEGEL DER ÖFFENTLICHKEIT
1987, zwei Jahre vor der großen Medienkunstausstellung »VIDEOSKULPTUR retrospektiv und aktuell 1963–1989«, kuratiert von Wulf Herzogenrath, stellten GRAF+ZYX im Auftrag von Edelbert Köb für die Wiener Secession die Ausstellung »JUNGE SZENE WIEN ’87. MULTIMEDIALE KUNST« zusammen. Kuratierung, Gesamtgestaltung und Organisation einer hochtechnischen Medien-Ausstellung war für die beiden »die Gelegenheit«, Wien mit den brandaktuellen, medienübergreifenden Werken jüngerer Künstler zu konfrontieren. Ohne sich auf Alteingesessenes zu berufen und nur mit knappem Ausstellungsbudget ausgestattet, wählten sie aus den zahlreichen Einreichungen für diese Ausstellung Installationen und Objekte unterschiedlicher theoretischer und formalästhetischer Ansätze.
Weitere Informationen zur interdisziplinären österreichischen Medienkunst unter:
NOMADEN DER ZEIT
JUNGE SZENE WIEN ’87
© tamara star|R|
[1] Wer keine Gelegenheit hat, die Präsentation in Berlin zu besuchen, hat die Möglichkeit, alle 5 Bänder auf unserer Infermental-Website infermental9.grafzyx.at live abzurufen, allerdings nur in einer Größe von 176x128 Pixel mit mp3-Ton.
Das sind ca. 80 MB / Kapitel bei je einer Stunde Spielzeit.
In unserem Shop com.transmitter-x.org kann die ganze Edition »HERZ VON EUROPA«, 5 Stunden Videokunst auf DVD-R erworben werden.
[2] Das Neue in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts ist die Emanzipation von allem Narrativen, Illustrativen und Literarischen. Das Bild soll nicht mehr der Verbildlichung des Realen dienen, sondern ausschließlich seine eigene Präsenz definieren.
[3] Als Videoperformance bzw. Medienperformance – im Gegensatz zur technisch nachbearbeiteten Videodokumentation einer Performance oder zur reinen Konzeptkunst – kann eine Performance und deren Aufzeichnung nur dann bezeichnet werden, wenn künstlerische Intention, Aussage und Durchführung aller Komponenten [Konzept, Bild-/Darstellungsästhetik, Sound/Musik, Technik] vom Künstler bzw. einer homogenen Künstlergruppe ganzheitlich selbst erarbeitet, performt und technisch durchgeführt wird und wenn Aussage und Ästhetik der Aufführung/Aufzeichnung und der medial-ästhetische, technische Eingriff ein untrennbares Ganzes ergeben.
[4] Von diesen Künstlern wurde damals eine neue, medienübergreifende Ausdrucksform erfunden und praktiziert, welche die österreichische Medienkunst – weit über die Grenzen der europäischen Gegenwart hinaus – in eine universale, elektronische Zukunft katapultierte.